Kulturelles Gedächtnis

Kulturelles Gedächtnis

„Wer alle Dinge erinnert, vergisst die Ordnung der Welt“ (Lachmann 1991, 122 zit. in ebd., 103), da er nicht sortieren, verbinden und auslassen, sprich Muster bilden würde. Dies ist, was ein Gedächtnis ausmacht und von einer Computerfestplatte unterscheidet, die zwar vieles speichern, aber nicht in einen Sinnzusammenhang bringen kann. Im Zuge des technischen Fortschritts nimmt die Dimension an Speichermöglichkeiten immer weiter zu, sodass die Masse an gespeicherten Daten uns schnell erdrückt, anstatt dass sie uns hilft, zu erinnern. Lagert man beispielsweise Fotos in digitaler Form, kann man zwar viel mehr Bilder aufzubewahren, als mit analogen Mitteln, jedoch geht dadurch gleichzeitig die Möglichkeit verloren, Fotos zusammen mit anderen anzusehen und sich gemeinsam an die Erlebnisse zu erinnern. Erst durch Interaktion mit anderen werden Erinnerungen wieder lebendig und ein kollektives Gedächtnis entsteht. Hierzu ist eine gut getroffene Auswahl ausreichend und auch nötig, um einerseits genug Aufmerksamkeit für alle Bilder aufbringen zu können und andererseits zu ordnen und gemeinsame Erinnerungsmuster zu bilden. (vgl. Kolhoff-Kahl 2009, 103)

Genauso wie das individuelle Gedächtnis arbeitet auch das kulturelle Gedächtnis mit dem Aufbewahren bestimmter, als wichtig und erinnerungswürdig erachteter Informationen, hier hauptsächlich in Form von kulturellen Relikten. Auch diese werden erst durch die Anteilnahme des Einzelnen lebendig. Je mehr verschiedene Zugänge einem zum kulturellen Gedächtnis gewährt werden, desto vielschichtiger kann es reflektiert und mit Aktuellem verglichen und analysiert werden. Begrenzt ein totalitäres System diese Auswahl und beleuchtet nur die Seite, welche die vorherrschenden Ideologien unterstützt, besteht lediglich eine „Illusion von Alternativen“ (Kolhoff-Kahl 2009, 104), denn jene Informationen, die konträre Denk- und Handlungsweisen anregen könnten, werden verborgen. (vgl. Kolhoff-Kahl 2009, 104; 106)

Das kollektive Gedächtnis bildet sich durch die Erinnerungen, die Menschen teilen, sowie die weitreichenden, allgemeineren Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses. Maurice Halbwachs, der diesen Begriff geprägt hat, geht es hierbei um den „konstruktivistischen, identitätssichernden Charakter“ (ebd., 106) des kollektiven Gedächtnisses, durch den ein Wir-Gefühl entsteht. Anders als die neutrale Geschichtswissenschaft verändert und begrenzt sich das kulturelle Gedächtnis mit den Menschen, die es teilen. Eine Generation, beispielsweise, die einen Krieg selbst miterlebt hat, erinnert sich anders daran, als eine, die sich ein Jahrhundert später damit im Geschichtsunterricht auseinandersetzt. Dadurch, dass gewisse Relikte über Generationen hinweg weitergegeben werden, werden auch die mit ihnen verbundenen Muster neu in das kollektive Gedächtnis eingewoben. Besonders tradierte Vorurteile und Denkmuster bleiben so sehr präsent und schwer veränderbar. (vgl. Kolhoff-Kahl 2009, 106f.)

Aleida Assmann teilt das kollektive Gedächtnis in zwei Faktoren auf und unterscheidet zwischen einem „entkörperten unbewohnten Speichergedächtnis“ (ebd., 107) und einem „verkörperten bewohnten Funktionsgedächtnis“ (ebd.). Das Funktionsgedächtnis beinhaltet alles, was im aktuellen Kontext bedeutsam ist, es ist begrenzt, dynamisch und kommunikativ. Das Speichergedächtnis repräsentiert all das Wissen, das in Museen, Medien, etc. gesammelt ist, ohne zu werten oder zu selektieren. Die Zunahme an Speichermöglichkeiten außerhalb des menschlichen Gehirns führt dazu, dass das Speichergedächtnis immer weiter gefüllt werden kann, während das Funktionsgedächtnis beschränkt bleibt. Heutzutage erleben wir täglich durch verschiedene Medien einen Überfluss an Informationen, der auf „vergessensintensive Serialität“ statt auf „bewertendes Erinnern“ (Assmann 1999, 412 zit. in ebd., 112) abzielt und unsere kulturellen Muster und Ideale beeinflusst. Wir sollten versuchen, diese nicht unreflektiert anzunehmen, sondern sie aus Distanz betrachten und mit den Informationen des Speichergedächtnisses vergleichen, um neue Perspektiven zu erlangen und Veränderungen zu gestalten. Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass Moral- und Wertvorstellungen sich nach dem räumlichen und zeitlichen Kontext, in dem man lebt, entwickeln und demnach ebenso zufällig wie verschieden sind. (vgl. Kolhoff-Kahl 2009, 107-110; 112f.)

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